Bin ich jetzt im Fernsehen?

01.04.2021

Dr. med. Oliver Tiedge über Videosprechstunden und die Ohne-Facharzt-Praxis

Angebote wie TeleClinic seien für einfachere Wehwehchen perfekt, für Husten, Schnupfen, Heiserkeit – sagt der Neurologe Oliver Tiedge. Bestens genutzt von denen, die sowieso schon digital aufgerüstet sind. Für neurodegenerative Patienten aber – jenseits der 65, mit chronischen Erkrankungen, ohne Berührung zu digitaler Kommunikation – passe das nicht. Zusammen mit der HealthCare Futurists GmbH testet der Thüringer eine erweiterte Videosprechstunde – die Ohne-Facharzt-Praxis.

Dr. med. Oliver Tiedge

Was ist bei der Ohne-Facharzt-Praxis anders als bei der Videosprechstunde von Kry oder TeleClinic?

Patienten müssen in die Hausarztpraxis kommen, um von hier aus die Videosprechstunde mit dem Facharzt zu führen. Ich sitze in meiner Praxis in Erfurt oder Eisennach, die Patienten bei der Hausärztin im kleinen Ort Seebach, 70km entfernt. Mein Patient ist nicht alleine vor dem Bildschirm, sondern in Begleitung einer Arzthelferin, die ihm und mir assistiert.

Klingt umständlich und – ehrlich gesagt – nicht so richtig digital …

Ein Großteil meiner Patienten ist schlichtweg nicht digital, gerade hatte ich einen 80-Jährigen Parkinson-Patienten vor dem Bildschirm. Die allermeisten Erwachsenen mit neurodegenerativen Erkrankungen sind alt, älter als 65 Jahre. Gleichzeitig ist der Weg in meine neurologische Fachpraxis – als Patient, der vom Land kommt – ziemlich weit, manchmal zu weit. Für dieses Klientel haben wir die Versuchsanordnung der Ohne-Facharzt-Praxis aufgebaut. Für ältere und alte Menschen auf dem Land.

Ein Telefon wird der 80-Jährige zuhause haben. Könnten Sie ihn nicht einfach zu Hause anrufen mit dem gleichen diagnostischen oder therapeutischen Effekt?

Zwei Dinge müssen Sie in unserer Tele-Versuchsanordnung beachten.

Erstens weist mir die Hausärztin vor Ort die Patienten zu. Sie hat den Anfangsverdacht für eine neurologische Erkrankung und überweist an mich. Nur dass der Patient sich dann nicht auf dem Weg in meine Praxis machen muss, sondern direkt vor Ort in der hausärztlichen Praxis betreut wird. Für mich ist er ein Erstpatient, den ich vorher nicht gekannt habe. Da wäre ein Anruf – Guten Tag, Sie sehen mich nicht, Sie kennen mich nicht, aber ich schaue mal, was Ihnen fehlt – kontraproduktiv.

Zweitens lebt Neurologie vom geschulten Blick, speziell bei Parkinson ist die Blickdiagnose wichtig. Ich muss den Patienten also sehen. Der 80-Jährige Patient ist mit starken Rückenschmerzen an mich überwiesen worden. Er hätte zuerst zum Orthopäden gehen können, aber die Hausärztin hatte einen Anfangsverdacht. Dass es allerdings die Krankheit Parkinson ist, die ich sofort diagnostizieren konnte, und die die Rückenschmerzen seit zwei Jahren auslöste, hatte keiner auf dem Zettel. Ich bin optimistisch, dass wir ihn jetzt medikamentös einstellen können, dass die Schmerzen deutlich abnehmen – und er irgendwann auch direkt in meine Praxis kommen kann, ohne Videosprechstunde.

Benötigt man für eine Videosprechstunde im Vergleich zu einer vor Ort mehr oder weniger Zeit?

Für mich als Facharzt nimmt die Videosprechstunde weniger Zeit in Anspruch. Die Arzthelferin kann sofort Dinge umsetzen, die ich direkt delegiere – Blut abnehmen, radiologische Bildgebung vereinbaren, etc. Meinem 80-Jährigen Parkinson-Patienten beispielsweise musste ich frei – also ohne Rollator – laufen sehen. Dafür braucht er Hilfe von der Arzthelferin, zudem muss jemand mit der mobilen Stiftkamera filmen, so dass ich alles gut sehen kann. Die Ohne-Facharzt-Praxis ist nicht nur Videotelefonie, sondern besteht aus einem Digitalkoffer mit vielen digitalen Diagnoseinstrumenten, die Messwerte direkt zu mir als Facharzt übertragen. Das sind die Unterschiede zur klassischen Videosprechstunde. Und – nicht zu unterschätzen – nimmt mir die Arzthelferin den späteren Dokumentationsaufwand ab und bereitet den Patienten auf das Arztgespräch vor.

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Was heißt das – auf das Arztgespräch vorbereiten?

Keiner meiner Patienten, die ich per Telemedizin untersucht habe, hat jemals ein Zoom-Meeting erlebt, geschweige denn eine Videosprechstunde. Sie sitzen zum ersten Mal beim Arzt am Bildschirm. Für uns ist das völlig normal, für die weitaus größere Gruppe der Patienten aber eine unglaubliche Hürde. Sie wissen nicht, wer ist beim Doktor noch im Raum? Sind 1.000 Zuschauer da? Bin ich im Fernsehen, hat ein Patient gefragt. Wird gefilmt und aufgezeichnet, muss ich mich anders verhalten?

Das irritiert und macht unsicher. Bevor ich ins Spiel komme, sagt die Schwester: bleiben Sie ganz ruhig, es ist ganz einfach, der Arzt fragt Sie etwas und sie antworten. Ältere Menschen müssen abgeholt werden. Da braucht es Menschen, die zwischengeschaltet sind und die Technik moderieren.

Diese Botschaft ist mir wichtig: nicht alle 80 Millionen Deutschen sind Digital Natives, die Allerwenigsten sind das. Und gerade die Klientel, die ich betreue, die über 65-Jährigen, sind nicht digital. Diese Menschen müssen wir anders abholen, da braucht es Hilfestellung. Sonst verlieren wir sie beziehungsweise lassen sie bei aller Digitalisierungs-Euphorie links liegen. Das darf nicht passieren!       

Dabei rede ich noch gar nicht von Menschen mit neurologischen Erkrankungen wie Demenz, bei denen die klassische Telesprechstunde erst recht scheitern würde. Ich möchte eine Brücke zu den Menschen bauen, die im Moment angehängt sind von der digitalen Medizin. Deshalb habe ich die Kassenärztliche Vereinigung auch angefragt, ob ich diese digitale Sprechstunde bei akuten Problemen mit in die offene Sprechstunde integrieren kann. Aktuell wird dies noch geprüft.

Offene Sprechstunde?

Eine Idee des Bundesgesundheitsministeriums, um langen Wartezeiten etwas entgegenzusetzen. Wir Ärzte sind verpflichtet, die Praxen fünf Stunden pro Woche offen zu halten, ohne Terminvereinbarungen. Das Problem an dieser Idee ist, dass sich die Natur wie immer durchsetzt.  Die Patienten mit den stärksten Ellenbogen schaffen es in die Sprechstunde, die Immobilen, die wirklich Kranken, die nicht akut kommen können, bleiben außen vor. Aber genau für sie müssten wir die Zeiten offenhalten. Deshalb hoffe ich, dass mir die KV genehmigt, meine digitale Sprechstunde hier einzubauen.

Wie lange beträgt die Wartezeit auf einen neurologischen Facharzttermin?

In Thüringen vier bis sechs Monate – im Durchschnitt.

Und wie offen ist die Thüringer KV bei neuen Ideen und Initiativen?

Ich erlebe die KV in Thüringen als recht pragmatisch und sehr schnell, was neue Verträge anbelangt. Da habe ich von Kollegen in anderen Bundesländern andere Geschichten in Bezug auf deren KV gehört. In Thüringen versucht man zuzuhören, zu beraten und auch Neues zumindest testweise in die Finanzierung einzubauen. Bis aber zum Beispiel die Arzthelferin eine eigene Abrechnungsziffer erhält – auf Bundesebene – bis dahin werden viele Jahre vergehen.   

Können die Leistungen der Arzthelferin nicht abgerechnet werden?

Nein, die Leistungen der Schwester können wir über die KV nicht abrechnen. Sie wird aus dem Forschungsetat des Projektes finanziert. Die Ohne-Facharzt-Praxis wird über das Bundesverbraucherschutzministerium gefördert, das sich besonders für die Digitalisierung und die Verbesserung der Strukturen auf dem Land einsetzt.

Passiert da auch ärztliches Konsil – also Beratung von Facharzt zu Hausarzt?

Das spielt eine Rolle, wenn auch eine untergeordnete. Seit vergangenem Jahr haben wir auch hier eine Abrechnungsziffer. Wichtiger aber ist die Niederschwelligkeit, wenn ich als Facharzt per Videotelefonie mit in der Hausarztpraxis bin. Da wird schonmal das Fachgespräch gesucht. Das startet mit dem virtuellen Überweisungsschein, in dem der Hausarzt kurze, geschlossene Fragen mitliefert, die ich dann direkt beantworten kann. Ich finde das Prinzip, das Vernetzen im Sinne des Patienten goldrichtig!

Können Sie den Patienten, bei dem Sie Parkinson diagnostiziert haben, auch weiterhin telemedizinisch behandeln?

Parkinson-Patienten kann man sehr gut von der Ferne aus behandeln, gerade in einem solchen Modell zusammen mit dem Hausarzt. Irgendwann könnte es notwendig werden, spezielle bildgebende Diagnostik, ein MRT oder ein spezielles Verfahren, bei dem ich die Nervenzellen sehen kann, vor Ort beim Radiologen einzusetzen. Aber insgesamt kann ich diese Patienten sehr gut zuhause versorgen, viele schaffen es ja nicht mal in die Sprechstunde.

Wie geht es weiter mit dem Modellprojekt Ohne-Facharzt-Praxis?

Wir stehen noch am Anfang. Ich behandele jeden Dienstag, um mehr Erfahrungen zu sammeln. Und beim Zuhause-Behandeln möchte ich zusätzlich das Konzept der Nichtärztlichen Praxisassistentin austesten. Diese Personen sind mobil auf dem Land unterwegs, fahren direkt zum Patienten nach Hause. Ausgestattet mit Laptop und Internetverbindung.

Ich bin nicht nur auf die neurodegenerativen (= älteren) Patienten spezialisiert, sondern auch auf Autoimmunerkrankungen, die jüngere Patienten betrifft. Ich bediene die komplette Alterspalette von jung bis alt. Für alle möchte ich eine möglichst niederschwellige, passende medizinische Versorgung bieten können. Dafür teste ich so viel Digitalisierung wie möglich – und zwar mit Hochdruck!

Das Gespräch führte Ron Voigt.

Was kann digitale Zukunftsmedizin? Das erfährst Du hier bei Dr. Future – dem Kanal für digitale Transformation im Gesundheitswesen.

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