Wann ist Innovation beendet?

05.03.2021

Interview mit Kickstarter „Superbacker“ Tobias Gantner

Dr. med. Tobias Gantner ist Geschäftsführer der HealthCare Futurists und Gründer der telemedizinischen Ohne-Arzt-Praxen. 2010 begann er, bei Crowdfunding-Portalen wie Kickstarter und Indiegogo zu investieren, aus denen Unternehmen wie Bragi oder Panomo hervorgegangen sind. Inzwischen hat er über 1.500 Projekte unterstützt. Wir sprechen mit ihm über Innovation als Investment und als Lebenseinstellung.

Die Mixed-Reality-Welt mit AR und VR ist auf den Crowdfunding-Plattformen stark vertreten. Hier die Cybershoes für die Oculus Quest.

Wann hast Du das letzte Mal als Crowdfunder investiert?

Diese Woche, gestern um genau zu sein. Eine Drohne, die man mittels Augentracking und VR-Brille navigieren kann. Die kann Mission Impossible in der heimischen Badewanne. Schnell, präzise – ein medizinisches Hilfsmittel für Akrophobiker, das eigentlich die Kasse zahlen müsste.

Ok, der Reihe nach. Akrophobiker?

Menschen mit Höhenangst. Jeder Psychiater wird Dir bescheinigen, dass die Konfrontationstherapie der Goldstandard ist. Wo ist die Angst vor Schlangen am größten? In Europa! Wo die Verbreitung von Schlangen am niedrigsten? In Europa.  Am niedrigsten ist die Phobiker-Rate übrigens im Amazonas-Gebiet. Warum? Weil die Menschen dort schon vor dem Frühstück mit mehreren Schlangen im Zwiegespräch waren. Den Akrophobiker werde ich allerdings schwerlich an die Eigernordwand hängen können. Die Brille kann er im heimischen Stadtwald aufsetzen, Drohne starten, Film ab. Das ist allerdings nur meine Vision. Jede Kasse wird Ihnen sagen: der spinnt.

„Ich möchte da sein, wo Ideen sind, wo Neues entsteht.

Apropos Spinnen. Wieviel ist Spinnerei bei den Projekten, die um Investoren werben? Spinnerei im Sinne von: daraus wird nie etwas.

Ein Drittel der versprochenen Produkte sehe ich nie. Das Geld ist weg. Der weitaus größte Teil also endet im Produkt, das ich dann mit kindlicher Begeisterung auspacke, wenn es da ist. Das kann aber schon Mal ein Jahr dauern oder länger. Allerdings sind auch das Prototypen, kleine Serien. Ein nicht unerheblicher Teil dieser zwei Drittel ist ein halbes Jahr später technischer Schrott, funktioniert nicht mehr.

Ist das als Investor dann noch ein gutes Geschäft?

Die Risikoinvestoren sind ausgiebig auf den Plattformen unterwegs, allerdings nur um zu Recherchieren. Um den Blue Chip im Heuhaufen zu finden. Wenn die etwas richtig gut finden, dann sagen sie den Gründern: geht weg von der Plattform, wir machen das exklusiv mit euch. Mir geht es nicht um das Investment meines Lebens, Gott bewahre. Ich möchte da sein, wo Ideen sind, wo Neues entsteht, wo ein bestimmter Spirit ist. Das ist ein kostenloser Innovations-Workshop. Andere zahlen viel Geld dafür, ich kriege das gratis und frei Haus geliefert. Naja, nicht ganz gratis.

Dr. med Tobias Gantner, 47, Vater von drei Kindern, nennt das Surfen auf den Plattformen sein Studium Universale des Innovations-Handwerks.

Kommst Du mit den Gründern auch direkt ins Gespräch?

Mindestens einmal im Monat telefoniere ich mit solchen Menschen ausführlich, die in irgendeiner Garage in irgendeiner Ecke der Welt sitzen und eine Knaller-Idee haben – oder zumindest glauben, dass sie sie haben. Manchmal ist das Teil des Tickets. Wer mehr investiert bekommt eine Audienz beim Gründer, in der Garage am Ende der Welt. So läuft das.

Wie entscheidest Du, ob Du investierst oder nicht?

Ich habe Stand heute 1.262 Kampagnen bei Kickstarter und 119 bei Indiegogo unterstützt. Alle aus dem Bauch heraus. Es geht nicht immer nur um die beste Idee. Es geht auch um die beste Vermarktung der Idee. Und da ist viel Kreativität am Start. Neulich habe ich nachhaltige Strohhalme zum Aufklappen gekauft. Zum Aufklappen, um sie in der Spülmaschine auch von innen sauber zu bekommen. Auf dem Werbevideo sah man hippe, junge Menschen am Halm zuzeln. Ohne das Getränk zu sehen, bekam man einen echten Appetit darauf. Dann fuhr die Kamera nach unten – und kam am Ende des Strohhalms an. In einem Klobecken. Das war die Botschaft: Strohhalme bekommst Du nicht sauber, die Keime sammeln sich, da kannst Du gleich aus dem Klo trinken.

Die Zukunft kann man schlecht vorhersagen, besonders wenn sie noch nicht begonnen hat.

Du gehst zu Indiegogo, um Strohhalme zu kaufen? Kann man da von Innovation sprechen?

Kommt darauf an. Wenn Du als Innovation nur die Erfindung des elektrischen Lichts, des Penicillins und des Automobils akzeptierst, werde ich Dich nicht überzeugen können. Aber das Problem mit der Innovation ist ja immer: wann weiß man sicher, dass es eine ist? Selbst Carl Benz konnte die Pferdelobby beruhigen: Mehr als 100.000 Autos werde es nie geben, mehr Chauffeure seien ja gar nicht da. Für ihn war ein Auto eine motorgetriebene Kutsche – mit Kutscher. Die Innovation in der Innovation sah er nicht.

Es ist immer das gleiche: man kann die Zukunft schlecht vorhersagen, besonders wenn sie noch nicht begonnen hat. So bleibt uns nichts anderes übrig als auszuprobieren, Menschen zu überzeugen mitzumachen und oft auf die Nase zu fallen. Ob mit der Kutsche oder dem Strohhalm. Das ist für mich der Reiz, mein Surfen ist wie ein Studium Universale des Innovations-Handwerks.

Beim Austesten für seinen Youtube-Kanal „Dr. Future“. Forschungsfrage hier: kann die Hololens von Microsoft im OP Menschenleben retten? Gantner ist Mediziner und hat als Unfallchirurg gearbeitet.

Studium Universale des Innovations-Handwerks?

Was mich von den klassischen Kickstarter Investoren unterscheidet ist, dass ich ja auch selbst Innovationen – wie die OhneArztpraxis – baue. Das heißt, ich lerne aus Kickstarter, erweitere meinen Erfahrungshorizont und mein Netzwerk und baue im Team an meinen Projekten weiter, manchmal zusammen mit Leuten, die schon Erfahrung auf dem Gebiet haben und die ich bei Kickstarter oder Indiegogo getroffen habe. Wer gerade vor hat, sich das nächste Buch zu Innovation zu kaufen, dem rate ich: Lass das mit dem Buch und investiere die Zeit in eine Kickstarter-Safari. Das ist dann das Buch in live und Farbe – mit Erfolgen, Dramen und allem was das wahre Leben des Erfinders und Gründers ausmacht.

Bräuchten klassische Unternehmen mehr Kickstarter und Indiegogo Gene in sich?

Naja, seit 170 Jahren am Markt zu sein, immer ganz vorn – so wie Siemens – das können nicht die schlechtesten Gene sein. Aber Siemens war auch mal so eine Art Kickstarter Kampagne. Oder nehmen sie die ERGO Versicherung. Gegründet wurde sie von einem findigen Pionier, der dem König einredete, seine Privatspielzeug – eine Eisenbahnlinie im heutigen Brandenburg – auch für das gemeine Volk zugänglich zu machen. So war die Reise- und die Gepäckversicherung geboren.

„Ich spreche mit Menschen in irgendeiner Garage, irgendwo in der Welt.“

Das Problem dieser alten Firmen ist nur, dass sie sie vor lauter Struktur das Potenzial ihrer Mitarbeiter nicht mehr nutzen. Die steigen jeden Morgen in ein Getriebe aus Zahnrädern und machen genau das was verlangt wird, damit der Motor läuft. Aber mit steigendem Innovationsdruck reicht das nicht mehr aus. Mitarbeiter müssten mehr geben, aber dafür brauchen sie mehr Spaß, mehr Feuer. Und da kommt wieder der Wunsch in den HR-Abteilungen, wie ein junges Start-up zu sein. 

Gibt es eigentlich auch ein natürliches Ende von Innovation?

Vor einem Jahr bin ich in ein neues Haus gezogen, alles war perfekt umgebaut. Trotzdem habe ich seitdem schon zweimal wieder kleinere Baustellen aufgemacht und Handwerker beschäftigt. Weil ich Ideen hatte, wie es für uns als Familie noch bequemer sein könnte. Solange der Mensch lebt, strebt er nach Vereinfachung und Verbesserung. Deshalb geht uns Innovation nie aus. Andererseits: bei einem Unternehmen ist die Innovationsphase direkt nach der Innovation vorbei. Danach geht es um anderes, um Vermarktung, um Effizienz, um typischen Firmenkram. Nur wenige schaffen es, wie Siemens immer wieder innovativ zu werden und langfristig zu überleben.

„Viele etablierte Unternehmen sind mit einer Kampagne gestartet.“

Zurück zu den Crowdfunding-Plattformen. Du bist jeden Tag drauf, jeden Tag am Recherchieren. Was ist Dein Antrieb?

Du meine Güte, wie viel Zeit hast Du? Also … Internationalität: ich habe mich heute mit einer Idee aus Tel Aviv befasst. Morgen ist es – mal sehen – vielleicht Bogota. Der Customized-Gedanke: ich bekomme kein Produkt von der Stange, sondern etwas Individuelles. Das Spiel mit dem Unbekannten: ich kenne nur die Idee, ob daraus wirklich ein Produkt wird, weiß ich bei Abschluss nicht. Das Agieren wie in einer Börse: ich investiere in eine Aktie, die eine haptische Rendite ausschüttet – wenn es gut läuft. Blick in die Ideen-Werkstatt: das ist vielleicht das Wichtigste für mich. Ich schaue Menschen beim kreativ sein zu, lerne von Ihnen, kriege Mechanismen des Ausprobierens mit.

Welche Produkte gehen am besten? Wo weißt Du sofort, das wird was. 

Wer immerzu daran denkt: wie kann ich eine Innovation erschaffen, der könnte alsbald dem Wahn verfallen. Das ist viel zu weit weg, viel zu abstrakt. Es geht um Ideen und deren Vermarktung, egal welchem Segment sie zuzuordnen sind. Völlig egal. Ich investiere beispielsweise wahnsinnig gerne in Buchprojekte auf diesen Plattformen. Das hat nichts mit Technologie zu tun, aber mit Wertigkeit und Sinnhaftigkeit. Die meisten der Bücher lese ich tatsächlich, weil sie einzigartig sind. Aber natürlich imponieren mir die technischen Ideen. Zum Beispiel die Schuhsohle, die wie ein Wearable funktioniert, Schritte misst, aber auch anatomische Fehlhaltungen aufzeichnet. Die Firma ist kein Start-up mehr, sondern ein richtiges Unternehmen. Wie viele heute große Player, die mit einer Kampagne gestartet sind.

Danke für das Gespräch!

Das Interview führte Ron Voigt.

Was kann digitale Zukunftsmedizin? Das erfährst Du hier bei Dr. Future – dem Kanal für digitale Transformation im Gesundheitswesen.

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